Wirkung von Kunst Und die Herzen schlagen höher
Was geht in uns vor, wenn wir Kunst sehen? Eine neue Studie könnte die Museumswelt schwer erschüttern.
© eMotion – mapping museum experience
Mit dem Datenhandschuh vor Hans Krüsis „Hügellandschaft mit drei Häusern“
Was geht in uns vor, wenn wir Kunst sehen? Eine neue Studie könnte die Museumswelt schwer erschüttern.
Wenn der Traum sich erfüllt, wenn ein Künstler miterleben darf, wie seine Bilder ins Museum gelangen, wie sie aufgenommen werden in die ständige, ewige Sammlung, wenn er also weiß, dass er von nun an ein Teil der großen Kunstgeschichte sein wird, dann ist damit noch überhaupt nichts gewonnen. Denn wer kann schon sagen, ob seine Bilder überhaupt beachtet werden. Ob sie sich behaupten inmitten der Abertausend anderen Kunstwerke. Ob die Besucher, die stehen bleiben, auch richtig hinsehen. Prägt sich ihnen etwas ein? Oder ist an der Garderobe schon alles vergessen?
Elf Sekunden, sagt Martin Tröndle.
Elf Sekunden, drei Atemzüge lang, verbringt der durchschnittliche Betrachter vor einem durchschnittlichen Kunstwerk. Das hat Tröndle in einer aufwendigen Studie herausgefunden, die der ZEIT vorliegt und die gerade in mehreren Fachjournalen publiziert wird. Rund 500 Museumsbesucher hat der Kulturwissenschaftler von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen durchleuchtet. Er wollte wissen, wie sie auf Monet reagieren, wie auf Hodler, Warhol oder ein Nagelbild von Günther Uecker. Er möchte verstehen, wie sie eigentlich funktioniert, die vertrackte Beziehung zwischen Kunst und Mensch. Wie sehen wir Bilder? Was lösen sie in uns aus?
Es ist eine eher kleine Studie, und doch könnte sie die Kunstwelt verändern. Wenn Tröndle mit seinen Befunden recht hat – und alles spricht dafür –, dann müssten die Museen kleiner, ruhiger und leerer werden. Schluss wäre mit dem Blockbuster-Gedrängel, mit dem ewigen Biennale- und Documenta-Trubel! Die Zukunft gehörte der Kontemplation.
Bislang sind die deutschen Museen mächtig stolz darauf, wenn möglichst viele Besucher kommen. Sie klammern sich an die eindrücklichen Zahlen – 115 Millionen Besuche pro Jahr, Tendenz steigend! Sie eröffnen auch fleißig eine Sonderausstellung nach der nächsten. Zuletzt waren es durchschnittlich 30, an jedem Tag im Jahr. Doch was genau sich im Museum abspielt, worauf die Besucher reagieren, wie eine Ausstellung gestaltet sein muss, damit ein Kunstwerk seine Wirkkraft entfaltet – darüber wissen die Kuratoren im Zweifel nichts. Viele wollen es auch gar nicht wissen.
Bloß keine Wissenschaftler, keine Messapparate! Niemand soll die Kunst in Diagramme pressen! Lange musste Tröndle suchen, bis er schließlich in St. Gallen auf einen Direktor traf, der sein Haus bereitwillig für eine Versuchsausstellung öffnete. Rund 70 Werke aus den letzten 150 Jahren gab es dort zu sehen, eine bunte Mischung von bekannten und weniger bekannten Künstlern. Hier wollte Tröndle erproben, wie die Menschen auf alte und junge, große und kleine, wichtige und unwichtige Bilder und Skulpturen reagieren. Und er befragte die Besucher nicht nur, er bot ihnen auch einen Datenhandschuh an, der die Herzfrequenz und die Hautleitfähigkeit misst und genau aufzeichnet, wer sich wie in der Ausstellung bewegt und vor welchen Werken stehen bleibt. Die Datenmengen, die so zusammenkamen, waren derart gewaltig, dass Tröndle und sein Team aus Psychologen, Soziologen und Programmierern (unterstützt vom Schweizer Nationalfonds) mehr als zwei Jahre für die Auswertung brauchten. Von den Ergebnissen sind sie selbst überrascht. Viele feste Gewissheiten werden löchrig.
Noch immer glauben die meisten Museumsleiter, dass sich die Besucher vor allem für das interessieren, was sie schon kennen: für große Werke großer Künstler. Viele meinen auch, dass die alte, klassische Kunst den größten Anklang finde. Und dass figurative Bilder beliebter seien als abstrakte. Nichts davon konnte Tröndles Studie bestätigen. Die Besucher in St. Gallen machten keine größeren Unterschiede zwischen den Epochen, Stilen, Sujets oder Gattungen.
Zwar konnten sich viele Betrachter für eine klassische Venedig-Szene von Monet durchaus begeistern und bewerteten das Bild bei der Befragung als ästhetisch hochwertig. Doch Herz und Haut signalisierten eher gepflegte Langeweile. Wirklich erregt waren die Besucher hingegen von Günther Ueckers Antibild, aus dem lauter spitze Nägel ragen. Ob Jung oder Alt, ob Mann oder Frau – alle zeigten hohe Pegelwerten.
Sie umschlichen das Werk in weitem Bogen, wie man aus den farbigen Punkten und Linien auf Tröndles Diagramm herauslesen kann. Sie sehen sich das piksige Ding lieber vom Rand aus an – als fühlten sie sich davon angezogen und zugleich abgestoßen. Von allen Werken der Ausstellung wurde der Uecker am intensivsten wahrgenommen: durchschnittlich 34,5 Sekunden lang. Und selbst jene, die noch nie von diesem Künstler gehört hatten und sich auch sonst mit Zero- oder Konzeptkunst nicht weiter auskennen, konnten dem Bild nicht entgehen.